In Zeiten wie diesen – Der Verzicht auf das Selbstverständliche

    „Wir müssen von Zeit zu Zeit eine Rast einlegen und warten, bis unsere Seelen uns wieder eingeholt haben“

    Dieses indianische Sprichwort ist mir Anfang des Jahres in einem kleinen, unscheinbaren Buch begegnet. Zu diesem Zeitpunkt habe ich den Worten keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und trotzdem habe ich sie mir notiert. Ich habe sie für mich persönlich aufgeschrieben, weil sie das ausgedrückt haben, was ich mir zu dieser Zeit so sehr gewünscht habe: Eine Rast.

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    Foto: Désireé Ludwig & Alina Berger, Hair & Makeup: Maria Doukali. Entstanden ist das Foto im Januar 2020.

    Vermutlich jeder von uns kennt diese Phasen im Leben: Das Gefühl, dass einem alles über den Kopf zu wachsen scheint, dass man den Ansprüchen an sich selbst und gegenüber anderen nicht mehr gerecht wird. Und das sowieso gerade einfach nichts so richtig klappt, wie es eigentlich sollte. In Momenten wie diesen wäre ein Knopf, bei dem man einfach mal auf „Pause“ drücken kann, ein unbezahlbares Geschenk.

    Es geht immer weiter, oft braucht es nur etwas Geduld

    Plötzlich spürt man dann aber doch, dass es irgendwie voran geht. Schleppend, aber es geht voran. Man merkt, dass das, was noch vor kurzer Zeit als unmöglich erschien, doch zu bewältigen ist.

    Dieser Prozess kostet meist viel Kraft, Disziplin und Ausdauer und wird häufig von einem hartnäckigen Hauch innerlicher Resignation begleitet. Schritt für Schritt tastet man sich zum Ziel und ist es erreicht, ist die Lebenslust und die Freude auf das was danach kommt die aller Größte.

    Und jetzt herrscht Pause – Für jeden von uns

    So läuft es in der Regel, eigentlich.

    Doch das war bevor eine Krise in unser Leben Einzug gefunden hat, von der sich niemals jemand erträumt hätte, dass sie Realität werden würde. Nun muss ich zum aller ersten Mal in meinem Leben lernen wie es ist, eine ungewollte Rast einzulegen. Eine Rast, die nicht nur mich, sondern jeden Einzelnen von uns auf diesem Planeten mit voller Wucht erwischt.

    Eine globale „Zwangspause“ wie diese hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie zuvor gegeben. Ihr Ausgang ist ungewiss, aber den Fakt, dass sie unsere Gesellschaft radikal verändern wird, wird wohl kaum jemand verleugnen. Während dieser Rast ist das Phänomen, das mich am meisten beschäftigt gleichzeitig auch ein Experiment. Denn wir müssen zum ersten Mal in unserer freien, von demokratischen Werten geprägten westlichen Welt lernen, wie es ist auf das Selbstverständliche zu verzichten.

    Der Verzicht auf das Selbstverständliche – Ein Experiment

    Eine der größten Selbstverständlichkeiten für mich ist es, die Menschen, die ich liebe, sehen zu können wann immer ich möchte. Und dazu gehört ganz besonders meine Großmutter. Sie ist meine größte Inspiration, sie ist der Mensch, der auch ohne Worte immer weiß wie es mir geht, der mich aufheitert und zum Lachen bringt und der mein größter Halt ist. Und nun darf ich diesen Menschen nicht mehr mit dieser Selbstverständlichkeit sehen, mit der ich es sonst immer getan habe.

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    Foto: Désireé Ludwig & Alina Berger, Hair & Makeup: Maria Doukali. Entstanden ist das Foto im Januar 2020.

    Es ist zu ihrem eigenen Schutz, aber das zu akzeptieren ist nicht einfach. Dabei ist für mich eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse die ohnehin begrenzte Zeit, die uns bleibt. Meine Großmutter ist zwar noch sehr fit, sie leidet an keinen schweren Erkrankungen, aber trotzdem ruft eine Ausnahmesituation wie die momentane einem verstärkt ins Gedächtnis, dass ein Mensch mit 84 Jahren nicht mehr ewig hier sein wird.

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    Diese wertvolle gemeinsame Zeit möchte man eigentlich mit freudigen Dingen verbringen. Gemeinsam lachen, Spaß haben und sich über Themen austauschen, die diese kostbare Zeit bereichern.

    Das ist momentan jedoch kaum möglich, weil die dunkle Wolke dieser unsichtbaren Krise immer mitschwingt. Unterkriegen lassen wir uns davon nicht, auch die Angst macht uns nicht wirklich zu schaffen.

    Es ist mehr das drum herum, was die Stimmung trübt: Die Folgen für das Leben in unserer Gesellschaft, für die Wirtschaft, diese generelle Sorge davor, wie es nach der Krise weitergehen wird. Diese Ungewissheit über eine Zukunft, die sich momentan hinter einer großen Maske verbirgt.

    Für die Menschen da sein, die unsere Hilfe am meisten benötigen

    Noch viel schwerer ist es jedoch für die älteren Menschen, die in einem Pflegeheim leben. Sie können und dürfen keinen Besuch mehr empfangen – zu ihrem eigenen Schutz – und sind nun ganz auf sich und die Unterstützung des Pflegepersonals gestellt. Das Sozialbedürfnis ist eines der grundlegendsten Bedürfnisse des Menschen und das dieses momentan nicht gestillt werden kann, wird extreme Folgen haben.

    Maßnahmen wie diese sind in dieser Situation einfach notwendig, aber was ist mit dem „danach“? Welche Auswirkungen wird diese Zeit sozialer Isolation gerade für jene Menschen haben, für die die Einsamkeit besonders gefährlich ist? Auf die momentane Situation bezogen ist der Ausgang noch ungewiss.

    Telefonseelsorge für Senioren: Einfach mal die Stille vergessen

    Aber auch in Zeiten wie diesen gibt es Alltagshelden, die sich gerade um ältere Menschen kümmern, die von der Krise besonders betroffen sind. Auf Silbernetz.org können Senioren ab 60 Jahren kostenlos und anonym mit einer Mitarbeiterin oder Ehrenamtlichen telefonieren. Ganz unkompliziert – um einfach mal zu reden und die Stille zu vergessen.

    Eine Organisation wie diese ist ein kleiner Hoffnungsträger gemessen auf die Zahl der Senioren, die momentan in Selbstisolation leben. Aber Dank der schier unendlich technischen Möglichkeiten kann heute jeder von uns ganz unkompliziert einem älteren Menschen seine Zeit schenken. Neben meiner Großmutter telefoniere ich sehr regelmäßig mit meinen Seniorenfreundinnen.

    Dabei reden wir mal kürzer und mal länger, aber ich höre an ihren Stimmen, wie sehr sie sich über meinen Anruf freuen. Aber auch ich bin sehr glücklich über unseren telefonischen Austausch. Denn die Geschichten, die sie aus ihrem Leben zu erzählen haben, lassen mich die Sorgen des Alltags immer sehr schnell vergessen.

    Kleine Geste, großer Effekt

    Eine kleine Geste wie ein Anruf kann momentan mehr denn je dazu beitragen, den Tag eines Menschen zu bereichern. Gerade für ältere Menschen ist es in dieser Zeit besonders wichtig, ein wenig Ablenkung in ihrer Selbstisolation zu bekommen. Denn während es für unsereins ganz normal ist, sich über soziale Medien und co. mit unseren Mitmenschen auszutauschen, ist es für Ältere häufig immer noch mit einem Kraftakt verbunden. Also: Schnappt euch ein Telefon und ruft eure Eltern, Großeltern, Onkels, Tanten oder wen auch immer an – sie werden es euch danken!