DDR Flucht für den Traum vom Studium – Eine bewegende Erzählung

Die Teilung Deutschlands in die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Jahre 1949 hat ein kriegsgeschädigtes Land für viele weitere Jahrzehnte entzweit. Diese „Entzweiung“ kam abrupt, unerwartet und hat das Leben der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in kürzester Zeit radikal verändert. Die Folgen: Hunderttausende Bürger flüchteten. Dafür riskierten sie nicht nur ihr Leben, sondern nahmen auch in Kauf, nie wieder in dieses zurückkehren zu können.

Ich habe mit einer außergewöhnlichen Frau gesprochen, die mit gerade einmal 18 Jahren beschlossen hat, für ihren Traum vom Studium die Flucht aus der DDR zu wagen.

DDR Flucht einer Außergewöhnlichen Frau

Ute ist heute 78 Jahre alt und hat ihre ganz persönliche Flucht Geschichte mit mir geteilt. Eine Erzählung einer mutigen Frau die zeigt, wie sehr sich Leid und Schmerz für die Verwirklichung der eigenen Träume lohnen können.

„Ich kam in West-Berlin an und war in einer fremden Welt. Ich war alleine und nervlich am Ende. Als ich es endlich ins Auffanglager geschafft hatte, erwartete mich schon kurz nach meiner Ankunft die Nachricht, dass mein Vater in Ost-Deutschland verhaftet worden sei“.

DDR Flucht einer außergewöhnlichen Frau

1940 wurde Ute,  als so genannte „Angehörige der Intelligenz“ in der ehemaligen DDR geboren. Die DDR brauchte diese Gesellschaftsklasse, jedoch sollten ihre Nachkömmlinge entsprechend dem Führungsanspruch der SED ein Teil der Arbeiterklasse werden. Somit war das Urteil für die heranwachsende junge Frau schnell gesprochen.

„Arbeiterin für Zeitwolle sollte mein Beruf für die Erfüllung des Volkswirtschaftsplans werden. Doch dieses Urteil hätte mein persönliches Ende bedeutet“. 

Die wissbegierige, zielstrebige junge Frau wollte mehr. Sie wollte die Welt entdecken, fremde Kulturen kennen lernen, sich bilden. Und sie wollte sich ihren sehnlichsten Traum erfüllen – den Traum vom Studieren.

„Meine Mutter starb während meiner Geburt und ich denke, dass dieses Schicksal meinen Lebensweg in positiver Hinsicht sehr beeinflusst hat. Ich habe selbst zwei wundervolle Kinder – und wäre eines von ihnen in meiner damaligen Situation auf die Idee gekommen, in den Westen zu flüchten, ich hätte alles getan, um sie davon abzubringen. Zuzusehen wie das eigene Kind ins offene Messer rennt ist etwas, dass jede Mutter, koste es was es wolle, verhindern würde“.

Doch dieses Gefühl des mütterlichen Beschützerinstinkts gab es für die damalige junge Frau nicht. Ihr Vater, ein Akademiker, zog sie gemeinsam mit seiner neuen Lebensgefährtin groß. „Die Beziehung zu meiner Stiefmutter war sehr gut, aber sie war eben doch nicht meine leibliche Mutter. Ich denke, dass sie mich mit Sicherheit geliebt hat, aber eben doch nicht ganz so innig, wie man sein eigenes Kind liebt“. 1958 absolvierte sie schließlich ihr Abitur, was gleichzeitig den Beginn ihre Arbeitertätigkeit für das Regime bedeutet hätte.

Eine Außergewöhnliche Frau die aus der DDR für ihren Traum vom Studium flüchtete

„Ohne die Unterstützung meiner Eltern hätte ich mein Vorhaben niemals realisieren können. Nachdem ich mein Abitur gemacht hatte, durfte ich nicht mehr nach Berlin reisen. Die Grenzen in den Westen waren ja noch offen und es bestand Fluchtgefahr. Ich musste also schriftlich versichern, dass ich Ost-Berlin nicht mehr besuchen würde. Jedoch gab es ein Schlupfloch, dass ich durch großes Glück nutzen konnte. Ich hatte mich in Berlin an der Kosmetikschule beworben und wurde dort tatsächlich angenommen. So konnte ich trotz des offiziellen Einreiseverbots noch legal nach Ost-Berlin reisen“.

Die Flucht

Der Entschluss der jungen Frau, sich ihren Traum von einem Leben in Freiheit zu verwirklichen, war nicht mehr aufzuhalten. Sie wollte sich bilden, studieren und sich selbst verwirklichen. Dafür riskierte sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie. 

Es war so weit. Ute sollte ihre Reise in ein Leben in Freiheit endlich beginnen. Um kein Aufsehen zu erregen, trug sie ihre Uniform der „Freien Deutschen Jugend“. So unscheinbar wie möglich aussehen, damit die Grenzpolizisten keinen Verdacht schöpfen würden. Mehr konnte sie nicht tun.

„Mit rasendem Herzen trat ich schließlich in meiner FDJ Kleidung die Reise nach Ost-Berlin an. Und da waren sie plötzlich – die Russen. Ich erkannte sie sofort. Sie trugen diese kühlen, tristen Uniformen, bei deren Anblick mir ein Schauer über den Rücken lief. Es dauerte keine zwei Sekunden und schon waren sie an meinem Platz angelangt. Personenkontrolle“.

Meine Kleidung und das Bisschen was ich bei mir hatte, um nach einer ordentlichen FDJlerin auszusehen, wurde mit höchster Akribie durchsucht. Ich stand einfach nur schweigend dar und ließ es über mich ergehen. Plötzlich ertönte dieser messerscharfe, aggressive Ton des russischen Grenzkontrolleurs. Wutentbrannt schrie er mich an: „Sie sind eine Volksverräterin, sie wollen in den Westen fliehen!“ Ich erkannte sofort, was dieser Mann in seiner Hand hielt. Es war ein 5 Pfennig Stück, Westgeld, dass sich aus einem unerklärlichen Grund in mein Portemonnaie verirrt hatte. Ich weiß nicht, was in diesem Moment in meinem Gehirn passierte, aber wie vom Blitz getroffen riss ich ihm das Pfennig Stück aus der Hand, schmiss es auf den Boden und schrie mit einer so abwertenden und hasserfüllten Stimme zurück: „Ich verachte den Westen“.

„Und sie haben es geglaubt. Sie haben meine Zugangsbestätigung für die Kosmetikschule noch einmal genau überprüft und ich durfte weiter Richtung Ost-Berlin reisen.

„Auch wenn ich nach diesem Ereignis bereits nervlich am Ende war, meinen Entschluss, die Flucht in den Westen wirklich anzutreten, wurde dadurch nur noch weiter gestärkt“.

Ankunft in Ost-Berlin

Angekommen in Ost-Berlin fuhr Ute schließlich zu „diesen Leuten“, die ein weiteres Teilstück des Fluchtplans bildeten.  Diese hatten für sie einen großen Strauß Blumen besorgt, der sie von da an auf ihrer Flucht begleiten sollte. „Ich kam bei diesen Leuten an, zog meine FDJ Uniform aus, nahm diesen riesigen Strauß Blumen entgegen und trat mit zitternden Knien meinen Weg Richtung Ringbahn an“. Diese 37 Kilometer lange Bahnstrecke war das Verbindungsstück zwischen Ost- und West-Berlin. Auf öffentlichem Weg bildete die Ringbahn die einzige Möglichkeit, in die heiß ersehnte Freiheit zu gelangen.

„Den Westen und mich trennten nur wenige Kilometer, aber diese sollten die längsten meines Lebens werden“.

Mit ihrem riesigen Blumenstrauß in der Hand erreichte sie schließlich das Bahngleis, an dem der Zug Richtung Freiheit abfuhr. Es wimmelte vor Passkontrolleinheiten, doch wie durch ein Wunder schenkte keiner der Grenzpolizisten der jungen Frau größere Beachtung.  „Mein Vater hatte mir immer eingeschärft, dass ich bei Ankunft der Ringbahn mit meinem Blumenstrauß voran zum Gleis rennen sollte. Das war bei diesem Auflauf von Grenzpolizisten leichter gesagt als getan. Doch dann kam sie, die Ringbahn, und wie durch ein Wunder schaffte ich es, mich und meinen riesigen Blumenstrauß dort hinein zu manövrieren. Drinnen angekommen war ich der Ohnmacht nahe. Ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Es gab nur noch mich, diesen Blumenstrauß und eine fingierte Hochzeitseinladung. Warum? Falls nach dem Grund für meine Reise in den Westen gefragt worden wäre, hätte die Einladung auf einer erfundenen Hochzeit in West-Berlin mein Schicksal noch etwas hinauszögern können. Und der Blumenstrauß wäre mein Gastgeschenk gewesen“.

DDR Flucht für den Traum von einem Leben in Freiheit

„Diese 10-minütige Fahrt fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Ich war so voller Panik, dass ich mich plötzlich nicht mehr wusste, ob es vier oder fünf Stationen bis West-Berlin waren. Ich konnte mich nur auf meine Intuition verlassen und hoffte, dass sie mich richtig führen würde“.

Und sie schaffte es. Nach fünf Stationen verließ sie die Ringbahn – sie hatte es nach West-Deutschland geschafft. Keinen Pfennig Geld, nichts was sie nur annähernd an ihre Familie erinnert hätte, sondern nur das, was sie an ihrem Körper trug. Niemand der auf sie wartete, sondern nur sie, ganz alleine und das Leben, dass nun vor ihr liegen würde.

Ankunft in West-Berlin

Mit ihrer letzten Kraft schleppte sie sich in das Auffanglager für DDR Flüchtlinge – und nur wenige Stunden später erreichte sie die Nachricht von der Verhaftung ihres Vaters.

„Tja, die Stasi war ja nicht dumm. Die Stasi-Spitzl saßen als Flüchtlinge getarnt im Auffanglager und meldeten erst mal jeden Neuankömmling der Partei. Doch meine liebevollen Eltern hatten vorgesorgt. Kurz vor meiner Flucht hatte ich ihnen einen Brief zugesendet, in dem ich schrieb, dass ich eine glühende Verfechterin des Kommunismus sei, aber mit ihnen nichts mehr zu tun haben wolle. Dieser Brief erreichte meine Eltern drei Tage nach meiner Flucht – und es funktionierte, mein Vater wurde tatsächlich wieder frei gelassen“.

Die schwierigste Hürde auf ihrem Weg für den Traum vom Studieren hatte Ute geschafft – Sie war in Westdeutschland angelangt. Doch da das sogenannte „sowjetisch besetzte Zone Ergänzungsabitur“ in West-Deutschland nicht anerkannt wurde, musste die wissbegierige Frau für ihren Traum vom Studium das West-Abitur nachholen. Durch die Unterstützung eines sehr liebevollen Mannes, der ihr späterer Ehemann und die Liebe ihres Lebens werden sollte,  konnte sie sich schließlich ihren heiß ersehnten Traum erfüllen.

Die Rückkehr

„Ich habe meine Familie tatsächlich nie wiedergesehen. Da waren dann die Beerdigungen und du durftest einfach nicht rüber. Das war einfach nur brutal“.

Durch die 1972 erlassene Amnestie wurden alle Flüchtlinge, die bis Ende 1971 geflohen waren, straffrei gestellt. Gleichzeitig wurde dadurch ermöglicht, dass ehemalige Geflüchtete zu Besuchen in die DDR reisen durften. Auch Ute war es dadurch möglich, zurück in ihre ehemalige Heimat zu reisen, doch dort erinnerte nichts mehr an ihr Leben von früher.

„Der Staat hat alles an sich gerissen. Auch wenn ich durch diese Amnestie die Möglichkeit bekommen habe, zurück an den Ort meiner Geburt zu kehren – von meinem Leben und meiner Identität war nichts mehr übrig“.

Trotzdem hat die heute 78-jährige lebensermutigende Frau ihren Schritt nach Westdeutschland zu flüchten niemals bereut. „Ich habe durch meine Entscheidung, aus der DDR zu flüchten, das Leben führen können, das ich mir immer sehnlichst erträumt habe. Ich konnte mir meinen Herzenswunsch vom Studieren erfüllen, habe einen wundervollen Beruf ausüben dürfen und die Liebe meines Lebens kennen gelernt. Auch wenn ich viel dafür geopfert habe, ich möchte die Zeit keine Sekunde zurückdrehen“.